Was Verletzungen betrifft, gibt es in Deutschland sicherlich keinen Wasserspringer, der eine längere Leidenszeit vorweisen kann. Seine jüngste dauerte 14 Monate. Es war nicht seine Längste. Nun ist Martin Wolfram zurück im Wettkampfgeschehen. Der Dresdner meldete sich Anfang Oktober beim Methodik-Pokal in Leipzig erfolgreich ins Wettkampfgeschehen zurück. Sein gelungenes Comeback ist ein weiterer Beweis dafür, dass in der Brust des 25-jährigen Weltklasseathleten ein außergewöhnlich großes Kämpferherz schlägt. Jeder Sportfan, der große Emotionen liebt und Kämpfer, die nie aufgeben, bewundert, sollte seine Geschichte kennen.
Olympisches Finale mit ausgekugelter Schulter
Rückblick: Olympische Spiele 2012 in London, Finale der Männer vom 10m-Turm: Martin Wolfram ist an der Reihe, zu dieser Zeit die vielleicht größte Nachwuchs-Hoffnung im Springer-Lager des Deutschen Schwimm-Verbandes (DSV). Der viereinhalbfache Salto vorwärts gelingt. Die Trainer sind erleichtert, das Publikum ist begeistert. Doch der Schein trügt.
Während der Eintauchphase ins Wasser, bei der enorme Kräfte auf den gesamten Körper des Springers einwirken, verletzt sich der damals 20-Jährige schwer. Die ausgekugelte rechte Schulter können ihm die Betreuer schnell wieder einrenken. Den Wettkampf springt er von Schmerzen geplagt sogar noch zu Ende. Er wird Achter. Was er zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht weiß, die Schulterverletzung ist schwerer, als gedacht. Eine Woche später wird Wolfram operiert.
Bis er ins Wasser zurück darf, vergeht fast ein halbes Jahr. Als die Rückkehr endlich klappt, ist an einen Sprung vom 10m-Turm trotzdem nicht zu denken. Zu groß die Kräfte beim Eintauchen, zu groß die Verletzungsgefahr. Übergangsweise springt er deshalb vom 1m-Brett und dies recht schnell sehr erfolgreich. In Rostock gewinnt er 2013 EM-Silber. Bei der WM in Barcelona im gleichen Jahr gelingt ihm ein achter Platz. Doch diese Disziplin ist nicht olympisch. Es gilt also schnellstmöglich wieder auf den 10m-Turm zurückzukommen.
Verletzungen und kein Ende – Zweite Schulter-OP
Doch kurze Zeit später, im Oktober 2013, folgt die nächste Hiobsbotschaft. Diesmal ist es die linke Schulter. Wieder muss operiert werden und wieder steht ihm eine lange Rehaphase bevor. Das Highlight „Heim-EM“ in Berlin 2014 verpasst er, das Wort Geduld hasst er.
Manch ein Sportler hätte spätestens zu diesem Zeitpunkt „hingeschmissen“ und die Karriere beendet. Martin Wolfram aber gibt nicht auf, auch wenn ihn manchmal Zweifel überkommen, ob er es jemals wieder in die Weltspitze zurück schaffen kann. Im Sommer 2015 steht fest: Er hat es geschafft. Er hat es zurück auf den 10m-Turm geschafft und er ist zurück in der Weltspitze – und wie!
Sensationelles Comeback
Es ist der 13. Juni 2015, der fünfte Wettkampftag bei den Europameisterschaften in Rostock. Ein denkwürdiger Tag, nicht nur für Martin Wolfram. Der damals 23-Jährige kehrt vor Heimpublikum und nach drei Jahren Leidenszeit auf die große internationale Bühne des Wasserspringens zurück und zeigt im Finale vom Turm eine Leistung, die angesichts der bekannten Vorgeschichte nur als sensationell bezeichnet werden kann.
Der Wettkampf läuft für Wolfram überragend gut. Vor dem letzten Durchgang liegt er sogar auf Goldkurs. Dann aber ist Titelverteidiger Minibaev (Russland) an der Reihe, bekommt für seinen letzten Sprung gleich viermal die Traumnote 10,0, übernimmt die Führung und setzt damit den Deutschen gewaltig unter Druck, der nun an der Reihe ist und seinerseits die Nerven behalten muss.
Ein Traum geht in Erfüllung
Und Wolfram antwortet im Stile eines Großmeisters. Seinen viereinhalbfachen Salto gehockt zaubert er ins Wasser. Es ist ein perfekter Sprung, den die Wertungsrichter mit unglaublichen 111,00 Punkten belohnen! Sechsmal erhält er die 10,0. Insgesamt springt er an diesem Tag zu 575,30 Punkten, eine neue persönliche Bestleistung, mit der er auch in London ganz oben auf dem Treppchen gestanden hätte. Was danach folgt ist riesiger Jubel in der Neptunschwimmhalle und pure Freude bei den Protagonisten:
Wolfram, der schon nach dem Auftauchen die Faust in die Höhe streckt, liegt anschließend seiner Freundin in den Armen und lässt seinen Freudentränen freien Lauf. Sein Glück kann er kaum fassen: "Da habe ich ein ziemlich großes Ding gerissen. Von meinem ersten Titel habe ich immer geträumt, und dann auch noch bei meinem Comeback. Mir fehlen die Worte."
"Wir haben ihn in London rausgefischt und dann das...! Dem Druck im letzten Sprung so standzuhalten... Das ist schon unheimlich emotional", so Lutz Buschkow mit bebender Stimme. Der DSV-Chefbundestrainer der Wasserspringer muss an jenem Tag einen dieser ganz seltenen Momente erleben, in denen er von seinen Gefühlen übermannt wurde.
Schulter zum Dritten
Anschließend bleibt Wolfram bis zu den Olympischen Spielen 2016 von weiteren schweren Verletzungen verschont. Er springt konstant auf hohem Niveau. Zwar machen die ständig entzündeten Schultern immer wieder Probleme, aber auch von einer Bandscheibenvorwölbung Anfang 2016, die ihn zur Nichtteilnahme am Springertag in Rostock und dem Weltcup in Rio zwingen, lässt er sich nicht unterkriegen. So wird er bei der WM in Kazan 2015 Sechster vom Turm und sogar Fünfter in Rio.
Doch wieder einmal hält das Hoch nicht lange an und die Verletzungsmisere wird fortgesetzt. Nach Rio ist an weitere Wettkämpfe zunächst nicht zu denken. Bereits im Halbfinale machte ihm seine persönliche „Achillesverse“ wieder zunehmend zu schaffen und da in den darauf folgenden Monaten keine Besserung eintreten will muss sich der Sportsoldat zum Ende des Olympiajahres zum dritten Mal einer Schulter-OP unterziehen.
Wieder drohen im zig Monate der Reha und des Aufbautrainings ohne einen einzigen Sprung ins Wasser, dazu die quälende Ungewissheit, ob er seine Leistungssportkarriere überhaupt noch einmal wird fortsetzen können. Er steht erneut am Scheideweg seiner Karriere. Doch dass er weiter machen will, das steht für ihn außer Frage: "Ich bin gut in dem, was ich mache und will es deshalb gern fortsetzen."
Endlich zurück – das nächste Mal
Nach 14 Monaten der Leidenszeit hat Martin Wolfram nun endlich wieder Gewissheit. Er wird seine Leistungssportkarriere im Wasserspringen fortsetzen können. Der wichtige Schritt zurück ins Wettkampfgeschehen ist ihm schon geglückt - standesgemäß für ihn mit einem Sieg. Platz eins vom 1m-Brett beim Methodik Pokal 2017, einem Nachwuchswettbewerb, zeigt aber auch, dass er vorerst noch kleine Brötchen backen muss. Doch bleibt sein lädierter Körper fit, wird es für Martin Wolfram, einem Wasserspringer mit außergewöhnlich großem Talent und einem noch größeren Kämpferherz, wieder ganz schnell nach oben gehen. Alles ist möglich.
» Ergebnisse Methodik-Pokal 2017
(LE)