Leistungssportdirektor Thomas Kurschilgen (60) über Folgen der Pandemie, Kritik und den Führungswechsel im DSV.
Aktuell befindet sich ganz Deutschland wieder im Lockdown. Was bedeutet das für den Schwimmsport, Herr Kurschilgen?
Die Sorge um den Sport in seiner Gesamtheit ist groß, das hören wir überall im Land. Zwar ist es dem Leistungssport gelungen, dass die Kaderathlet*innen an den Bundesstützpunkten und auch Landesstützpunkten Zugang zu Trainingsstätten haben, doch an der Basis gibt es gerade wenig Lichtblicke. Trotz umfangreicher Hygienekonzepte gibt es starke Einschränkungen bis hin zum Erliegen des Sportbetriebs und der Schwimmausbildung. Dies führt verständlicherweise zu Missmut und Verdrossenheit.
Sehen Sie Spielraum für die kurzfristige Wiedereröffnung von Schwimmhallen?
Den Vereinen sollten Möglichkeiten für ein Sportangebot unterbreitet werden, sobald das medizinisch vertretbar ist. Es erscheint mir wichtig, dass der DOSB und die Landessportbünde schnellstens mit den Verantwortlichen in den Ländern über sinnvolle Zugangsmöglichkeiten zu den Sportstätten sprechen.
Und wie sehen die Möglichkeiten im Leistungssport aus?
Mit größtmöglicher Besonnenheit navigieren wir seit Beginn durch die Coronavirus-Krise, das werden wir so fortführen. Mit ständig neuer Nutzen-Risiko-Abwägung und sorgfältiger Abstimmung, was in dieser schwierigen Zeit noch zu verantworten ist und wo wir unliebsame, weil harte Einschnitte vornehmen müssen. Mir ist klar, dass es bei allen Beteiligten – und insbesondere bei den Athlet*innen - eines hohen Maßes an Verständnis und Flexibilität bedarf. Unsere Wettkämpfe und Meisterschaften mussten wir ab Oktober trotz angepasster Planungen und erneuter Vorbereitungen ausnahmslos absagen. Trotz hervorragender Hygienekonzepte, wie uns von den örtlichen Behörden mehrfach bestätigt wurde. Das ist schon sehr bitter, dass wir im März die Meisterschaften zunächst verschoben haben und nun im zweiten Anlauf im letzten Quartal wiederum nicht zum Zuge kommen.
Was bedeutet das eigentlich für die Olympia-Qualifikation?
Hier müssen wir die olympischen Disziplinen differenziert betrachten. Im Freiwasserschwimmen haben unsere Aktiven bereits ihre persönlichen Quotenplätze für Tokio erreicht. Sie können zumindest zielorientiert trainieren. Ob die Weltcups im ersten Quartal des Jahres stattfinden können, wird sich zeigen, notwendige Trainingslagermaßnahmen in der Höhe oder auf Nullniveau konnten teilweise mit hohem logistischen Aufwand umgesetzt werden. Im Wasserball wird nach jetzigem Stand das Olympiaqualifikationsturnier in Rotterdam von der FINA im Februar des nächsten Jahres stattfinden. Daher werden unter strengen Hygieneauflagen dezidiert abgestimmte Maßnahmen für unsere Olympiakader im Wasserball in der Sportschule der Bundeswehr in Warendorf unter strengen Quarantäneregelungen, speziellen Hygienekonzepten und Testungen stattfinden. Wir organisieren und finanzieren alles Erforderliche, damit Hagen Stamm mit seinem Team die Wasserball-Nationalmannschaft bestmöglich auf eine erfolgreiche Qualifikation zu den Olympischen Spielen vorbereiten kann. Im Wasserspringen ist die Qualifikation mittlerweile für April 2021 angesetzt. Unsere Olympiakaderathlet*innen kommen in diesem Jahr mit Chefbundestrainer Lutz Buschkow noch zu zwei Nationalmannschaftsmaßnahmen in Rostock und Dresden zusammen. Und für die Synchronschwimmerinnen organisieren wir in regelmäßigen Abständen in Kienbaum die erforderlichen Lehrgänge.
Und was ist mit dem Beckenschwimmen?
Hier gestaltet sich die Situation schwieriger, nicht nur wegen der insgesamt ja viel größeren Anzahl von Kaderathlet*innen, die sich in den Staffeln und Einzeldisziplinen qualifizieren können. Die dynamische Entwicklung der Pandemie schränkt uns in vielen spezifischen Aufgabenstellungen immens ein und stellt unser Teammanagement wöchentlich vor neue Herausforderungen. Bereits geplante Maßnahmen mussten hier öfter als anderswo kurzfristig abgesagt und neu disponiert werden. Zeiträume verschieben sich und stellen an die Trainingsmethodik große Herausforderungen. Wir werden uns daran gewöhnen müssen, viel an unseren Bundesstützpunkten zu arbeiten. Und dass wir uns im kommenden Jahr - wenn überhaupt - vordringlich in ausgewählten Ländern in Europa bewegen müssen. Ich habe Respekt vor jeder und jedem Aktiven, der sich dieser Situation konstruktiv und zielführend stellt.
Was heißt das genau für die Olympia-Qualifikation im Schwimmen?
Aktuell sind wir noch in intensiven Überlegungen, eine Wettkampfmöglichkeit im Dezember in der Sportschule der Bundeswehr in Warendorf anzubieten. Juristische, medizinische, organisatorische, sportfachliche Fragestellungen müssen geklärt werden und Abstimmungen mit der FINA sowie eine Einordnung in die aktuelle Gesamtsituation erfolgen, damit wir in der kommenden Woche zu einer Entscheidung in der Taskforce kommen. Nach jetziger Lage sind im April 2021 drei Wettkampfmöglichkeiten für die Qualifikation zu den Olympischen Spielen in Tokio vorgesehen. Wir sind in den letzten Abstimmungsprozessen mit dem DOSB und wollen Athlet*innen, die unter den alten Bedingungen die Qualifikation bereits erreicht haben, vorrangig zur Nominierung vorschlagen.
Gibt es in diesen Tagen überhaupt noch Chancen auf Erfolgsmeldungen?
Es ist und bleibt unser vordringliches Anliegen, die Athlet*innen in dieser Situation bestmöglich zu unterstützen und vorzubereiten. Die Kaderkontingente konnten wir für 2021 in den olympischen Sportarten nach intensiven Abstimmungen mit dem DOSB nochmals erweitern, ebenso die Kontingente in der Spitzensportförderung der Bundeswehr Auch die Sporthilfe ist unseren Überlegungen gefolgt und hat die Förderung für den DSV erweitert. In der Individualförderung sind es somit über 2 Mio. Euro für unsere Kaderathlet*innen. Insgesamt stehen uns für die Steuerung und Förderung der Nationalmannschaften nach vielen Verhandlungen mit dem BMI über 4 Mio. Euro zur Verfügung; mehr als in 2019 und auch mehr als in 2020. Im Leistungssportpersonal konnten wir seit 2019 zwölf zusätzliche Vollzeitstellen implementieren. Derzeit umfasst das Volumen der Bundesförderung für das Leistungssportpersonal einen Betrag von jährlich rund 2,5 Mio. Sie weist damit den höchsten Stand in der Historie des DSV auf. Diese Rahmenbedingungen sollten uns durchaus positiv stimmen, trotz dieser schwierigen Phase. Wir dürfen uns nicht entmutigen lassen.
Die damalige Präsidentin Gabi Dörries hatte Sie im September 2018 zum Direktor Leistungssport berufen. Wie blicken Sie auf das bislang Erreichte zurück?
Der Vorstand hat mit Weitblick dem Leistungssport erhebliche Kompetenzen eingeräumt. Insgesamt haben wir in den zurückliegenden zwei Jahren im Leistungssport viel erreicht und können auf ein stabiles Fundament schauen, auch wenn weitere Investitionen und Maßnahmen unumgänglich sind. Unsere sehr guten Ergebnisse im Ranking der Spitzenfachverbände in PotAS sind ebenfalls ein Indiz dafür und die acht WM-Medaillen in Gwangju können sich ebenfalls sehen lassen. Unser Blick muss jetzt allerdings unter den erschwerten gesellschaftlichen Rahmenbedingen fokussiert auf die Olympischen Spiele 2021 ausgerichtet sein.
Kurz nach Ihrem DSV-Einstand war Präsidentin Dörries bei der Mitgliederversammlung in Bonn zurückgetreten, am 21. November soll dieses Amt nun wieder ausgefüllt werden. Wie bewerten Sie die Zwischenzeit für den Verband seither?
Nach der Mitgliederversammlung im Dezember 2018 war sehr schnell deutlich geworden, dass dem DSV über den Leistungssport hinaus eine weitere harte, aber notwendige Restrukturierungs- und Konsolidierungsphase bevorstand. Viele Probleme und Herausforderungen wurden in sehr schwierigen Zeiten angemessen und verantwortungsvoll gemeistert. Trotz des ein oder anderen Kritikpunktes aus den Landesschwimmverbänden ist dieser große Verband sehr ruhig und kompetent geführt worden und die zuvor vielen negativen Verlautbarungen in der Öffentlichkeit sind dabei deutlich in den Hintergrund getreten. Im Gegenteil, der Auftritt der Nationalmannschaft in Gwangju und bei den Finals in Berlin hat berechtigt für viele positive Schlagzeilen gesorgt. Der DSV kann insgesamt durch die Haushaltsbewirtschaftung in den Jahren 2018 - 2020 auf ein solides finanzielles Fundament und eine komfortable Rücklagensituation verweisen. Ein striktes Kostenmanagement sowie erhebliche strukturelle und personelle Anpassungen haben dazu beigetragen.
Als Teil des Vorstands haben Sie dabei besonders eng mit dem Vizepräsidenten Uwe Brinkmann zusammengearbeitet, der sich nun aber nicht erneut zur Wahl stellen wird. Mit welcher Strategie kann der neue Vorstand an das Erreichte der vergangenen Jahre anknüpfen?
Im Vorstand haben sich zwei relevante Ansätze heraus kristallisiert die in einem Strategiepapier erarbeitet worden sind. Erstens sind die operativen Anforderungen im Hinblick auf die Führung eines so großen Verbandes wie dem DSV hinsichtlich Zeitaufwand, Fachwissen und Spezifik so stark gestiegen, dass eine weitere Professionalisierung in Richtung Hauptamt unerlässlich erscheint. Bestehende Rechtsformen sowie deren Vertretungsregelungen bedürfen zudem in den nächsten zwei Jahren einer ernsthaften Überprüfung. Dies wurde in zwei Regionalkonferenzen mit Landesschwimmverbänden im Ergebnis sehr deutlich. Mit einem Haushaltsvolumen von fast 10 Millionen Euro, über 50 hauptberuflichen Mitarbeiter*innen und einem großen Spektrum von Aufgaben sollten daher weitere Überlegungen zur Modernisierung des Verbandes ganz vorne auf der Agenda stehen. Einige Spitzenverbände, wie auch der DOSB als unsere Dachorganisation, haben hier bereits eine Vorreiterrolle übernommen. Zweitens bedarf es über den Leistungssport hinaus weiterer hauptamtlicher Personalinvestitionen im Wettkampfsport, in der Sportentwicklung und der Bildung. In diesem Kontext haben Kontinuität und Stringenz im Handeln für den Verband oberste Priorität, um die Erneuerung in klaren Schrittfolgen bis 2022 konsequent voranzutreiben. Partikular- und Individualinteressen dürfen nicht erneut aufbrechen.