Gute Medaillenchancen haben nun wirklich einige aus dem deutschen Schwimmteam, von Gina Böttcher bis Taliso Engel. Das Scheinwerferlicht der Medien wird sich am häufigsten aber wohl auf Elena Semechin (geb. Krawzow) richten, wenn in Paris ab heute die Paralympics (29. August – 07. September) folgen. Nicht nur die ARD („Generation F“), sogar das britische Pendant BBC hat bereits im Vorfeld sogar eine aufwendige Dokumentation drehen lassen über die sehbehinderte Schwimmerin. Der Lebenslauf der 30-Jährigen ist schließlich eine jener Sportgeschichten, die viele als Drehbuch für einen Kinofilm fast schon für zu gewagt halten würden.
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Bereits vor drei Jahren in Tokio (JPN) hatte die Brutschwimmerin Paralympics-Gold gewonnen, im Zusammenspiel mit einem „Playboy“-Shooting heimste sie damals mehr Schlagzeilen ein als viele Olympiasieger*innen. Wenige Wochen später folgte dann aber der Schock mit der Diagnose Hirntumor. „Von Wolke sieben auf Betonboden quasi, das war wie ein Aufprall“, beschrieb es Semechin selbst in besagter ARD-Doku. Am Tag vor der nun notwendigen Schädel-Operation mit ungewissem Ausgang heiratete sie noch schnell ihren Trainer Philip Semechin. „Mir war wichtig, noch selbst das Ja-Wort geben zu können“, lautete die Begründung.
Alles ging gut seither, zum Glück. Die Wahlberlinerin, die als Elfjährige 2005 mit ihrer Spätaussiedler-Familie aus Kasachstan nach Deutschland gekommen war, kämpfte sich trotz 13 Zyklen Chemotherapie und Bestrahlung tatsächlich zurück an die Spitze, indem sie Einbußen bei der aeroben Leistungsfähigkeit mit mehr Schnellkraft kompensierte. Nach dieser körperlichen Transformation wurde sie erneut Welt- und Europameisterin – und will nun auch in Paris unbedingt wieder Gold. „Das hätte eine besondere Bedeutung für mich. Weil die letzten Jahre so chaotisch waren und ich so viele Herausforderungen hatte, mit denen ich klarkommen musste. Mein Ziel ist es, die Leistungen zu toppen, die ich vor dem Tumor hatte“, so Semechin, die seit 2019 auch den Weltrekord über ihre Paradestrecke 100m Brust hält. „Der Krebs hat es nicht geschafft, die Kontrolle über mein Leben zu übernehmen.“
Elema Semechin: Der Schwimmsport ist ihr Tor zur Welt
Beeindruckend offen spricht sie in Interviews Dinge an, die Menschen ohne Beeinträchtigung sich oft nur schwer vorstellen können. Dass sie bis heute ab und zu Angstattacken bekommt zum Beispiel. „Wenn ich erschöpft bin und einen ganz bestimmten Kopfschmerz habe, dann habe ich manchmal einen Flashback. Ich weiß ja, dass der Krebs zurückkommen kann“, sagte sie. Fast schon harmlos klingen dagegen andere Erlebnisse aus ihrem Alltag. Berichte über Beulen oder Wunden, weil Semechin („Ich riskiere es einfach“) keinen weißen Stock als Hilfsmittel benutzen möchte. Oder dass sie sich bei Wende oder Anschlag immer mal wieder einen Finger bricht oder ein Band reißt, weil ihre Sehkraft eben nur noch bei zwei Prozent liegt, seit die Beeinträchtigung durch den Morbus Stargardt in ihrer Schulzeit begann. All das kann sie aber nicht aus dem Pool locken, höchstens der Wunsch nach eigenen Kindern später mal. Semechin sagt: „Wenn man jahrelang mitgeteilt kriegt, dass man nichts schafft oder kann, dann sehnt man sich danach zu beweisen, dass man doch etwas kann. Irgendwann habe ich gemerkt, dass der Schwimmsport für mich ein Tor in die Welt ist.“
So ähnlich formulieren das auch fast alle anderen der insgesamt zwölf deutschen Para-Schwimmer*innen in Paris, wenn sie über die Bedeutung des Sports in ihrem Leben reden. Nicht immer klingt dabei alles gleich nach Happy End. „Es fällt mir sehr schwer, diese Para-Welt anzunehmen, obwohl hier die Gemeinschaft so toll ist, das stärkt mich so ungemein, aber ich vermisse meine alte Welt sehr“, sagt beispielsweise Tanja Scholz ganz offen. Im Jahr 2020 hatte ein Reitunfall die 40-jährige Elmshornerin aus ihrem gewohnten Leben gerissen, die dreifache Mutter ist seither querschnittgelähmt. Sie musste erst lernen, ihr Handicap zu akzeptieren und damit umzugehen, das Schwimmen hilft ihr bis heute dabei. „Viele sagen ja, sie kommen stärker aus dem Unfall heraus, aber ich hatte halt den Luxus, 36 Jahre lang in der normalen Welt leben zu dürfen, und jetzt ist es das vierte Jahr im Rollstuhl. Es wird besser, Gott sei Dank, auch deswegen, weil man hier das einfach lernt, dass es eigentlich doch nicht so ein großes Problem ist. Aber es dauert“, sagt sie.
Und so formuliert Scholz ihre Ziele für diese Paralympics dann auch etwas zurückhaltender, obwohl sie im vergangenen Jahr gleich sechs WM-Medaillen gewinnen konnte, drei davon sogar in Gold: „Ich würde mir wünschen, dass ich jede Sekunde genießen kann“, sagte sie vor den Spielen in Paris. Scheinwerferlicht braucht es dabei nicht immer.
Deutsche Schwimmer*innen bei den Paralympics 2024 (und ihre möglichen Finalzeiten)
Donnerstag, 29. August
50m Freistil: Verena Schott (Finale 19:19 Uhr)
100m Schmetterling: Philip Hebmüller (Finale 20:09 Uhr)
200m Freistil: Tanja Scholz (Finale 20:46 Uhr)
Freitag, 30. August
100m Freistil: Tanja Scholz, Gina Böttcher (Finale 17:37 Uhr)
200m Lagen: Verena Schott (Finale 18:00 Uhr)
100m Brust: Maurice Wetekam (Finale 19:14 Uhr)
100m Rücken: Philip Hebmüller (Finale 19:44 Uhr)
Samstag, 31. August
100m Rücken: Maike Naomi Schwarz (Finale17:37)
100m Rücken: Mira Jeanne Maack (Finale 18:06)
400m Freistil: Johanna Döhler (Finale 18:47 Uhr)
Sonntag, 01. September
200m Lagen: Mira Jeanne Maack (Finale 18:06 Uhr)
150m Lagen: Tanja Scholz, Gina Böttcher (Finale 19:10 Uhr)
150m Lagen: Josia Topf (Finale 19:20 Uhr)
100m Brust: Verena Schott (Finale 19:55 Uhr)
Montag, 02. September
50m Freistil: Malte Braunschweig (Finale 17:52 Uhr)
50m Rücken: Josia Topf (Finale 17:58)
50m Freistil: Taliso Engel (Finale 18:41)
50m Freistil: Maike Naomi Schwarz, Elena Semechin (Finale 18:47 Uhr)
Dienstag, 03. September
50m Schmetterling: Verena Schott (Finale 18:05 Uhr)
200m Lagen: Philip Hebmüller, Taliso Engel (Finale 19:40 Uhr)
200m Lagen: Johanna Döhler (Finale 20:04 Uhr)
Mittwoch, 04. September
100m Freistil: Maike Naomi Schwarz (Finale 17:36 Uhr)
400m Freistil: Mira Jeanne Maack (Finale 18:24 Uhr)
Donnerstag, 05. September
200m Lagen: Maurice Wetekam (Finale 18:31 Uhr)
100m Brust: Taliso Engel (Finale 19:03 Uhr)
100m Brust: Elena Semechin (Finale 19:26 Uhr)
100m Brust: Johanna Döhler (Finale 19:33 Uhr)
Freitag, 06. September
100m Schmetterling: Malte Braunschweig (Finale 18:35 Uhr)
50m Freistil: Josia Topf (Finale 19:33 Uhr)
50m Freistil: Tanja Scholz (Finale 20:03)
Samstag, 07. September
100m Rücken: Verena Schott (Finale 17:53 Uhr)
50m Rücken: Gina Böttcher, Tanja Scholz (Finale 19:04)
200m Freistil: Josia Topf (Finale 19:56 Uhr)
Die Deutschen und ihre Startklassen
Name | Jahrgang | Startklasse | Verein |
Elena Semechin | 1993 | 12 | Berliner Schwimmteam |
Mira Jeanne Maack | 2004 | 8/7/8 | Berliner Schwimmteam |
Malte Braunschweig | 2000 | 9/9/9 | Berliner Schwimmteam |
Johanna Döhler | 2010 | 13 | Berliner Schwimmteam |
Tanja Scholz | 1984 | 4/2/3 | PSV Union Neumünster |
Maike Naomi Schwarz | 1994 | 12 | SC Potsdam |
Gina Böttcher | 2001 | 4/3/4 | SC Potsdam |
Verena Schott | 1989 | 6/5/6 | BPRSV Cottbus |
Taliso Engel | 2002 | 13 | SG Bayer |
Maurice Wetekam | 2006 | 9/9/9 | SG Bayer |
Philip Hebmüller | 2007 | 13 | Düsseldorfer SC 1898 |
Josia Topf | 2003 | 3/3/3 | SV Erlangen |